Susanne Burmester
Miro Zahra, IM FLUSS, St. Georgen, Wismar, 2016

„Durch Sumpf, Gestein, durch raue, dichte oder selt‘ne Enge / Mit Kopf, Hand, Flügeln oder Füssen muss seinen Weg er finden / Und schwimmen oder sinken, waten, kriechen oder fliegen …“
Dies ist einer der Texte, den Miro Zahra mit ihrem leicht tschechischen Akzent liest. Sie kam 1980 als 20-jährige aus Böhmen nach Deutschland, damals war sie so alt, wie Henry David Thoreau, als er sein erstes Tagebuch begann und diese Zeile notierte. Das war 1837.
Der Text führt uns direkt hinein in die Arbeit der Künstlerin. Denn wir befinden uns nicht in einer klassischen Ausstellung, sondern in einer Rauminstallation, noch dazu an einem mit Spiritualität und Geschichte aufgeladenen Ort.
Wer hier eintritt, erhält keine plakativen Angebote, sondern ist mit einer Welt konfrontiert, die in der ersten Begegnung unzugänglich wirkt. Stellen Sie sich vor, Sie haben sich bei einer Wanderung in einem Wald verirrt und sind umgeben von einer Landschaft, die sie noch nie zuvor gesehen haben. Behutsam schauen sie sich um und nach und nach erschließt sie sich über die Einzelheiten, die Sie mit den Augen und den Ohren wahrnehmen.
Wir sind umgeben von monochrom wirkenden Bildern in Schattierungen von Grau. Im Raum nehmen wir eine untergründige Klangcollage wahr. Im Zentrum der Südkapelle lädt ein Stuhl dazu ein, Platz zunehmen und die Kopfhörer aufzusetzen.
Wer dem Angebot folgt, kann dem Rückzug folgen, den Henry David Thoreau angetreten hat und den Miro Zahra, sucht, wenn sie arbeitet. Im Raum sind wir Teil einer Gemeinschaft, die aus zufälligen Besuchern besteht, auf dem Stuhl sind wir allein mit der Stimme der Künstlerin und den Texten des 1817 geborenen Schriftstellers und Philosophen. Klangcollage und Raum treten in den Hintergrund.
Wir erleben ganz physisch die Erweiterung der zweidimensionalen Malerei auf den Raum und die Hinführung des Sehens auf das Hören. Wir erleben auch den Unterschied zwischen einem öffentlichen Ort und einem Ort der Zurückgezogenheit und wenn wir ganz genau hinhören, nehmen wir uns selber als Teil des Ganzen wahr.
Die großformatigen Bildtafeln sind während eines Aufenthaltes im Schloss Wiepersdorf entstanden Sie sind nur an die Wand gelehnt, um das historische Mauerwerk zu schützen. Daher wirken sie, wie vorübergehend hereingeschwebt und betonen ihren Bezug zum Raum. Weitere kleine Formate entstanden im Winter, als Miro Zahra sich in eines der Ateliers in Schloss Plüschow zurückgezogen hatte. 
Wie ihre anderen Bilder, sind auch diese in ihrer Farbigkeit zurückgenommen. Das Grau dominiert, hier und da taucht ein Blau, ein Braun auf, einzig das helle Bild mit der sichtbaren Lineatur bricht aus. Doch wer sich den Bildern zuwendet, kann hinter die Oberfläche schauen. Er nimmt wolkige Verdichtungen, netzartige Strukturen und Tiefe wahr – aus dem „Sumpf“ entsteht „Leben“.
Miro Zahra arbeitet meistens an mehreren Leinwänden gleichzeitig. Von Heinrich von Kleist gibt es den schönen Satz über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden – hier ist es die allmähliche Verfertigung des Bildes beim Gehen.
Zahlreiche Farbschichten werden übereinandergelegt, teilweise auch wieder abgetragen. Oft verbergen sich stark farbige Töne hinter der monochromen Oberfläche. Sie sind vordergründig nicht sichtbar und doch Teil der Substanz des Bildes.
Der intensive Dialog mit den Bildern führt jedoch nicht zur Fülle, sondern zur Reduktion. Die Künstlerin sucht den Moment, kurz bevor das Bild verschwindet. Dazu gehört Mut – doch nur auf diese Weise gelingen ihr Werke, die nicht nur vom Prozess berichten, sondern diesen auch für die Betrachter nachvollziehbar machen.
Auch die Klangcollage, die wir hören, entwickelt sich und beginnt immer wieder aufs Neue: Aus dem heiteren Murmeln eines Bachlaufes wird ein Regen, dann Meeresrauschen, Vogelstimmen tauchen vor, bis die Stimme einsetzt (Miro Zahra), die wiederum von synthetischen Klängen gestört wird, fremdartigen Klängen, die ins Universum verweisen. Aus der Einzelstimme wird ein Chor, ein Tröten tritt auf, das zwischen Maschinenklang und brunftigem Wildtier changiert – bis der ungefähr 8 ½ minütige Zyklus endet und wieder von vorne beginnt.
Mit den Texten von Henry David Thoreau, die Miro Zahra liest, erweitert sich dieses Installation vom Sehen über das Hören zum Denken und in die Sprache. Viele von Ihnen kennen den Text „Walden“, indem dieser von seinem Leben in den Wäldern berichtet. Es ist bis heute ein Kultbuch alternativer Lebensformen.
Thoreaus Tagebücher sind jedoch der eigentliche Kern seines Werks. Sie stellen eine einzigartige Verbindung von sensibler Naturbeobachtung, philosophischer Reflexion und politischem Kommentar dar. Sie zeigen, dass ein Leben im Einklang mit der Natur, eben NICHT bedeuten muss, dass man sich von der Welt abwendet.
Wie kann man Naturbewusstsein und kulturelle Zeitgenossenschaft zusammendenken? Das beschäftigt Miro Zahra und alle, die in der Provinz leben und abseits der Metropolen eine Kunst schaffen, die dort verortet ist und dennoch aktuelle Fragestellungen behandelt.
Die Verbindung von Kunst und Leben bleibt für viele nur ein Traum. Miro Zahra hingegen gelingt es, diese Sphären zu verknüpfen, ohne dass ihre Kunst die politischen Ideen nur illustriert. Ihre Werke sind immer wieder aufs Neue ein Plädoyer für offene Räume und dafür, dass wir nicht nur mitschwimmen „im Fluss“, sondern uns selbst als Teil eines größeren Ganzen wahrnehmen, das wandelbar bleibt und Chancen zur Entwicklung bietet.